02/12/2015 – Kindheit im Wattebausch
„Wertvolle Kinder“: Eltern wurde das Zutrauen in die Fähigkeiten ihrer Kinder abtrainiert, meint der Soziologe Christian Alt.
„Statt einer Tom-Sawyer-Kindheit erleben Kinder heute ein Aufwachsen im Wattebausch“, so Christian Alt, der in der Reihe „Wertvolle Kinder“ im gut besuchten ORF-Publikumsstudio referierte. Die sogenannten „Helikopter-Eltern“ würden ihre Kinder bis an die Klassentüre „verfolgen“. „Sie sind überfürsorglich, behütend und leben in der ständigen Angst, etwas falsch zu machen. Ihr Erziehungsstil ist geprägt von exzessiver Einmischung.“ Solchermaßen begluckte Kinder haben kaum Möglichkeiten, das Leben selbst zu erfahren, obwohl ihre Eltern ihnen alle Optionen bieten. Und damit verschwindend geringe Chancen, irgendwann einmal selbstständig zu werden.
Helikopter oder gar Kampfhubschrauber?
Alt begann mit einer Typologie der „Helikopter-Eltern“: Die „Transporthubschrauber“ tragen ihren Sprösslingen alles hinterher, kutschieren sie morgens in die Schule, nachmittags zu Freunden und abends zum Sport. Die „Rettungshubschrauber“ wollen ihre Kinder um jeden Preis vor Unannehmlichkeiten bewahren und die „Kampfhubschrauber“ schließlich wachen wie Guerillatrupps mit Argusaugen über jeden Schritt ihres Nachwuchses. Jene Eltern seien es vor allem, die „uns das Leben schwer machen. Sie regen sich über alles auf, mischen sich überall ein, fordern Lehrplanänderungen und Disziplinierungsmaßnahmen“. Ein großes Misstrauen gegenüber Bildungseinrichtungen sei jedoch allen Helikopter-Eltern gemeinsam und als Folge davon eine möglichst frühe zusätzliche Förderung in alle erdenklichen Richtungen.
Am (digitalen) Gängelband
In der „verinselten Kindheit“ stehen Kinder unter Termindruck. Für unbeachtetes Spielen und Herumstromern draußen bleibt keine Zeit. Dabei ist in der UN-Kinderrechtskonvention ein „Recht auf freies Spiel“ und Unbeobachtetsein verbrieft, de facto schwinden diese Freiräume für Kinder jedoch zunehmend. Dafür sind laut dem Soziologen des Deutschen Jugendinstituts München auch gesellschaftliche Veränderungen ausschlaggebend: Eine zunehmende Verstädterung lässt freie Spielräume draußen verschwinden und mehr Verkehrsaufkommen birgt Gefahren. Angesichts sinkender Geburtenraten dürften die Zeiten der draußen tobenden Kinderbanden definitiv der Vergangenheit angehören. Und die Mediatisierung trägt ihr übriges für die Qualifizierung von Helikopter-Eltern bei. Die sogenannten „Drohnen-Eltern“ haben mit Tracking-Apps, Social Media & Co ihren Nachwuchs am digitalen Gängelband.
Lasst die Kinder frei!
„Wo ist das Abenteuer-Land?“, titelte jüngst die „Zeit“ und forderte: Lasst die Kinder frei! Wenn das so einfach wäre, denkt jetzt vermutlich, wer in Elternhaut steckt. Denn auch Eltern sind laut Christian Alt „einem wesentlich größeren Aufmerksamkeitsdruck ausgesetzt und stehen unter ständiger Beobachtung – von den eigenen und anderen Eltern, von Nachbarn, von Lehrpersonen“. Dabei implizieren die Bedingungen unserer Lebenswelt laut dem Sozialwissenschaftler keine Kinder und Eltern stünden im Dilemma zwischen Erwerbstätigkeit und Fürsorgepflicht. Im „Zeitalter der Elternratgeber“ würden Experten eine Advokatenfunktion übernehmen und ein aktivierender Wohlfahrtsstaat gerade Familien, die am Rand der globalisierten Wissensgesellschaft stehen, zusätzlich unter Druck setzen. „Diese Eltern sind dann selbst dran schuld, wenn sie die angebotenen Leistungen nicht in Anspruch nehmen.“
Abschied vom Perfektionsanspruch
Eltern sind aber nicht nur damit beschäftigt, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen, mit Zeitdruck, veränderten Rollenaufteilungen und finanziellen Belastungen klarzukommen. Der Erziehungsalltag ist auch ein Balanceakt zwischen Zuviel und Zuwenig, zwischen gewähren lassen und Grenzen setzen, zwischen einfühlsamer Zuwendung und Lenkung. „Wärme und Kontrolle stehen in einem Wechselspiel“, so Christian Alt. Eltern, die „die Kunst des richtigen Erziehens“ beherrschten, würden weniger auf Unterordnung, dafür mehr auf Selbstentfaltung setzen, auf liebevolle Zuwendung und Nachgiebigkeit, und die angeborene Neugier und den Forschergeist des Kindes in alle Interaktionen einfließen lassen. „Loslassen statt einengen“ heiße die Devise, um die Selbstständigkeitsentwicklung der Kinder zu fördern, und setze Vertrauen in die Potenziale der Kinder voraus. Und wohl auch die Verabschiedung vom Anspruch, als Eltern perfekt zu sein.
„Das Kind kommt nicht auf die Welt,
um die Erwartungen der Eltern zu erfüllen.“
(Remo Largo)
Autorin: Christine Flatz-Posch
Die Vortragsreihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs wird in Kooperation mit dem ORF Vorarlberg und Russ Media durchgeführt und vorwiegend vom Land Vorarlberg/ Fachbereich Kinder- und Jugend finanziert. Die Vorträge in der Vokithek nachhören oder nachlesen.
Zu den nächsten Vorträgen der Reihe „Wertvolle Kinder"
In Kooperation mit: Dorn Arbeitsbühnen