11/10/2011 – Gewissheit, dass alles gut ausgeht
„Wertvolle Kinder“: Kinderängste – erkennen, verstehen, helfen. Dr. Reinmar du Bois über Ängste und Angststörungen im Kindes- und Jugendalter.
Angst begleitet uns alle durchs Leben und erfüllt wichtige Funktionen. Wie sie sich in den unterschiedlichen Entwicklungsphasen vom Säuglingsalter bis zur Pubertät äußert und wann Angst krankhaft wird, darüber gab Dr. du Bois im ORF-Studio auf Einladung des Vorarlberger Kinderdorfs einen Überblick. Als „fatale Koppelung“ bezeichnet du Bois die Beziehung der Mutter zum Säugling, da das Baby über die Gefühlsantwort der Mutter die eigene Gefühlwelt kennenlerne. Während Neugeborene die Fähigkeit besitzen, Erregungen an sich vorbeiziehen zu lassen und damit über „ein dickes Fell“ verfügen, wirken auf Babys ab dem Alter von etwa drei Monaten Reize viel stärker ein. Weil es noch keine adäquaten Schutzmechanismen hat, wird das Baby von seinen Ängsten überwältigt. Dies äußert sich nach fu Bois in den sogenannten 3-Monats-Koliken und Affektkrämpfen – das „Wegschreien“ bis zur Ohnmacht –, die viele besorgte Eltern zum Arzt treiben würden.
„Am Ende des Tages muss alles wieder in Ordnung sein.“
Kleinkinder beschäftigt vor allem Trennungsangst. Beziehungen gestalten und sichern, Trennungen ertragen, die Fähigkeit, allein zu sein, Hass und Liebe integrieren sind die Entwicklungsaufgaben im Kleinkindalter. „Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Angst und Wut“, führte du Bois, der ärztlicher Direktor des Klinikums Stuttgart ist, aus. „Das Kind schwankt zwischen Verlustangst und dem Bewusstsein der Abhängigkeit.“ Viele Trotzanfälle ergeben sich aus dieser Ambivalenz. „Das Kind will etwas unbedingt selber machen und spürt zugleich, dass es die Mutter braucht.“ In jedem Fall sei für das Kind die Versöhnung wichtig, die Gewissheit, dass alles gut ausgeht. „Am Ende des Tages muss alles wieder in Ordnung sein.“ Unerlässlich seien deshalb auch die Rituale vor dem Schlafen, das eine aktive Rückzugsleistung des Kindes von den Eltern darstelle.
„Dem Kind ist sehr bewusst, dass es anerkannt sein muss,
um Freunde zu haben.“
Mit etwa fünf Jahren fangen Kinder an, Aufgaben zu erledigen, Dinge herzustellen, entwickeln das Bewusstsein, eine Leistung vollbracht zu haben. Und sie interessieren sich viel mehr für andere Kinder. „Dem Kind ist sehr bewusst, dass es anerkannt, gut sein muss, um Freunde zu haben“, hielt du Bois fest. Kinder im Grundschulalter hätten eine enorme, spontane Begeisterung, sich anzustrengen und etwas zu leisten, die ihnen oft jedoch in ersten zwei, drei Schuljahren ausgetrieben würde: Laut du Bois durch überhöhte Leistungsanforderungen in der Schule, aber auch durch überzogene Erwartungen seitens der Eltern, die ihr Kind ständig vergleichen. „Diese Kinder haben dann Bauchweh vor dem Schulbesuch oder verweigern die Schule völlig.“ Ins Volksschulalter fallen auch die „Objektängste“. „Kinder interessieren sich vor allem für die Gefahren, die überall lauern. Sie erkennen die Gefährlichkeit der Welt der Widerspiegelung der eigenen Aggression“, so du Bois.
„Immer mehr Jugendliche verweigern den Schulbesuch.“
Weniger Ängste als Phobien beschäftigen Jugendliche in der Pubertät, der Phase der Selbstfindung und sexuellen Reifung. Mit 12, 13 Jahren fangen Kinder und Jugendliche an, auf Abstand zu den Eltern zu gehen. „Sie ziehen sich nicht nur ins Bad zurück und wollen nicht mehr nackt gesehen werden, sondern nehmen auch ihr soziales Leben selbst in die Hand.“ Bei etwa zwei Drittel der Kinder geschehe dies wie von selbst, weniger kontaktbegabe Kinder würden jedoch „sozial abgehängt“. Immer mehr Jugendliche würden sich plötzlich entscheiden, nicht mehr in die Schule zu gehen. Du Bois bezeichnete in seinem Vortrag „Schulphobie“ nach der Magersucht als „neue Welle“ bei Jugendlichen.
„Ängstliche Eltern stecken ihre Kinder in jedem Fall an.“
Grundsätzlich sind Ängste Teil jeder Entwicklungsphase und würden dabei helfen, angemessen zu reagieren. Jedoch gehe es darum, Kinder und Jugendliche mit ihren Ängsten nicht allein zu lassen. Als Ursachen, die normale Ängste aus dem Ruder laufen lassen, nannte Dr. du Bois zusammenfassend:
• hohe Reizmengen / Medien
• mangelnde Geborgenheit im sozialen Lebensraum
• zu starke Abschottung der Kinder von dem, was draußen passiert
• ständige Erfahrung häuslicher Gewalt, Bedrohlichkeit und Hilflosigkeit
• depressive, ängstliche Eltern (unsichere Bindungen)
„Ängstliche Eltern stecken ihre Kinder in jedem Fall an“, so die ernüchternde Feststellung des Experten, der den Appell an die Ängstlichen im Publikum richtete, sich weniger ängstliche Freunde zu suchen, die den Kindern andere Erfahrungen ermöglichen. Wie „kompetent“ das Kind letztlich ist, hänge auch mit einer guten Eltern-Kind-Bindung zusammen und damit, wie gut es Kinder und Eltern schaffen, die natürliche Aggression in konstruktive Bahnen zu lenken. Du Bois riet zu Raufspielen, die Kindern gut dabei helfen würden, Versöhnung zu lernen und mit den eigenen aggressiven Seiten umzugehen.
Buchtipps
Kinderängste – erkennen, verstehen, helfen“ – Reinmar du Bois
„Das kompetente Kind“ – Jesper Juul