10/11/2011 – „Ich gehe nicht mehr zur Schule!“
„Wertvolle Kinder“: Dr. Udo Baer zeigte im Vorarlberger Kinderdorf Kronhalde geheime Quellen für Schulangst und Schulverweigerung auf.
Die mittlerweile achte Staffel der Vortragsreihe „Wertvolle Kinder"
ist dem Thema „Innere Not – Ängste und Sorgen von Kindern und
Jugendlichen" gewidmet. In Kooperation mit dem Landeselternbüro des
Landeselternverbandes Vorarlberg lud das Vorarlberger Kinderdorf Dr.
Udo Bear zum Thema „Geheime Quellen der Schulangst“ ein. Der
Sozialpädagoge, Autor und Therapeut mit langjähriger Erfahrung in der
Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und in der Elternberatung ist
Mitbegründer und wissenschaftlicher Leiter der Zukunftswerkstatt
„therapie kreativ“.
Belastende Ängste auschlaggebend
„Ich gehe nicht mehr zur Schule!" Bevor dieser Satz das erste Mal
ausgesprochen wird, brodeln lange Zeit Gefühle in Kindern, die von
ihnen nicht in Worte gefasst werden können. Das besondere Augenmerk
muss daher den Situationen und Erlebnissen davor gelten. Denn immer
sind diffuse und belastende Ängste dafür verantwortlich, dass Kinder
nicht mehr in die Schule gehen wollen.
Es muss daher gefragt werden:
„Wann ist die Freude an der Schule in Unbehagen umgekippt?“ Aufmerksame
Eltern und Pädagogen sind also eine Grundvoraussetzung für das Erkennen
des innerlichen Rückzugs vor dem sozialen Netz der Schule.
Warnsignale wahrnehmen
Warnsignale sind immer verstummte und besonders ruhige Kinder,
Kinder denen die Worte fehlen, aber auch das genaue Gegenteil ist nicht
selten: Verhaltensauffälligkeiten und ein gesteigertes
Aufmerksamkeitsbedürfnis sind oft die sprachlosen Signale betroffener
Kinder. „Störer sind oft Verstörte“ erwähnt Dr. Baer in diesem
Zusammenhang und betont die besondere Funktion von Gefühlen: Gefühle
lassen sich „umtauschen“. So werden Trauer oder Schuldgefühle in Angst
umgetauscht und können sich so als Schulangst manifestieren.
Die geheimen Quellen von Schulangst
Eine einzige Ursache von Schulangst gibt es nicht, die Quellen sind
so individuell wie die Kinder es sind. Dr. Baer erläutert anhand vieler
Fallbeispiele fünf hauptsächliche Quellen von Schulangst:
Veränderungen im persönlichen Umfeld, wie beispielsweise Schulwechsel, Lehrerwechsel, aber auch ein Umzug des besten Freundes in der Klasse kann eine Ursache sein.
persönlichkeitsbezogene Ursachen, z.B. eine natürliche besondere
Empfindsamkeit, eine Dünnhäutigkeit, die zudem nicht selten
fälschlicherweise als AufmerksamkeitsDefizit(Hyperaktivitäts)Störung
(ADHS) diagnostiziert wird.
Druck, z. B. Leistungsdruck, schwelende Konflikte innerhalb des Familiensystems.
Beschämung,
z. B. beschämende Situationen im Klassenverband oder in der Schule,
aber auch im Elternhaus und im Freundeskreis. Denn: Beschämung
erniedrigt Menschen.
Schuldgefühle, die daraus entstehen, dass
Kinder immer den Erwartungen der Erwachsenen entsprechen wollen. Hier
ist es besonders wichtig, Kindern diese Schulgefühle aktiv zu nehmen,
das heißt durch klare Worte: „Du bist nicht schuld!“.
Was kann ich unternehmen?
Die Antwort von Dr. Baer klingt so pragmatisch wie sein gesamter Vortrag: „Erklären, erklären, erklären“:
1. Aufmerksam gegenüber Veränderungen von Kindern sein.
2. Nachfragen und sich auch nicht abwimmeln lassen, hartnäckig sein, ernsthaftes Interesse zeigen.
3. Die fünf Quellen (siehe oben) strategisch abarbeiten und prüfen.
4.
Die Gefühle des Kindes ernst nehmen und dabei die Vorbildwirkung
beachten. Eltern sollen beispielsweise die eigenen Erfahrungen mit der
Schule Revue passieren lassen und sich fragen wie es ihnen damals ging.
Oft eignet sich das Erzählen solcher Erlebnisse als Einstieg für
tiefere Gespräche mit dem Kind oder Jugendlichen.
„Kinder sind weise"
Dr. Baer plädiert eindringlich für mehr leistungsfreie Räume und
Zeit zum Nichtstun für Kinder und fasst seinen Vortrag mit den Worten
zusammen: „Ich glaube, dass Kinder weise sind“.
Anschließend regte
Dr. Baer eine Diskussion an und ging auf individuelle Problemstellungen
ein. Einfühlsam und kompetent beantwortete er Fragen um Themen wie
Trauer oder Schuldgefühle und vertiefte einige seiner vorausgegangenen
Ausführungen.
Info: Zukunftswerkstatt therapie kreativ
Publikationen
Keine Angst vor der Schule: Was Eltern tun können (2010)
Gefühlssterne, Angstfresser, Verwandlungsbilder, Kunst- und gestaltungstherapeutische Methoden und Modelle (2008)
Neurowissenschaften, Säuglingsforschung und Therapie (2005)
Hyperaktive Kinder kreativ (2005)