Respekt und Liebe brauchen Zeit
Was Patchwork-Familien (mehr) können müssen, damit es allen gut geht. Der Paar- und Familientherapeut Henri Guttmann machte den Auftakt der aktuellen Reihe „Wertvolle Kinder“.
Früher eine durch Schicksalsschläge erzwungene Lebensgemeinschaft, heute die Familienform der Zukunft? Ob Patchwork-, Lego-, Regenbogen-Familie – immer treffen unterschiedliche Wertsysteme und Erziehungsstile aufeinander, wenn sich Elternteile mit Kindern dazu entschließen, eine neue Lebensgemeinschaft einzugehen. Henri Guttmann kennt das aus eigener Erfahrung sowie aus seiner Praxis als Therapeut. Umso authentischer und nachvollziehbarer waren seine Ausführungen in der Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs, die einmal mehr im ORF Landesstudio Vorarlberg in Dornbirn gastierte.
Rivalitäten und Erwartungsdruck
Das „bei weitem anspruchsvollste Familienmodell“ sei die Patchwork-Familie mit gemeinsamen Kindern. Diese durchlaufe verschiedene Phasen: Vom Abschied über die Neubildung bis zur Festigung könnten etliche Stolpersteine auftauchen. Nicht nur Rivalitäten, Schuldgefühle und alte Konflikte würden oft im Alltag brodeln. Auch ein hoher Erwartungsdruck, es besser als beim ersten Mal zu machen, erschwere das Zusammenleben.
Sehnsucht nach „Kernfamilie eins“
Sieht man dies alles vor dem Hintergrund, dass Paare laut Guttmann dann am glücklichsten sind, wenn sie noch keine Kinder haben, braucht es für das Projekt Patchwork-Familie eine gehörige Portion Mut. Vor allem aber auch Zeit, um in die veränderte Lebenssituation hineinzuwachsen. Dies sei besonders für die Kinder wichtig. Für sie bedeute die neue Familienform zuerst einmal ein Verlust, während die Eltern Gewinn und Chancen im Fokus hätten. „Kinder brauchen Raum für den Trauerprozess, denn meistens wünschen sie sich einfach nur die Wiederherstellung der alten Familie.“ Diese „Sehnsucht nach Kernfamilie eins“ sei legitim und das Kind müsse diese auch aussprechen dürfen.
Paarbeziehung hat Priorität
Darüber hinaus sei es wichtig, dass sich die Eltern Zeit für sich als Paar nehmen. Ritualisierte Zeitinseln würden die Beziehung festigen. „Eine gesunde Partnerschaft kommt vor der Elternschaft“, hielt Henri Guttmann fest, der zu einer gemeinsamen Viertelstunde täglich, zwei Abenden pro Monat und einem Wochenende ohne Kinder pro Jahr riet. So könnten Nähe und Intimität aufrechterhalten werden. „Respekt und Liebe brauchen Zeit“, konstatierte der Schweizer Experte. „Realistische Erwartungen“ würden das Patchwork-Familienleben ebenso erleichtern wie eine gute Kooperation mit den abwesenden Elternteilen. Kindern müsse es zudem erlaubt sein, den eigenen Elternteil lieber zu mögen als den fremden.
Seien Sie mutig!
Ein bis zwei Jahre dauere es in der Regel, bis sich die neue Familie stabilisiert und die Erwachsenen mit den fremden Kindern eine Freundschaft aufbauen konnten. Guttmann betonte, dass der neu hinzu gekommene Elternteil im ersten Jahr keine erzieherischen Aufgaben übernehmen dürfe. „Die oder der Böse im Alltag muss immer der biologische Elternteil sein.“ Generell seien Patchwork-Konstellationen umso einfacher, je kleiner die Kinder sind. „Kleine Kinder gewöhnen sich leichter an einen neuen Elternteil als große“, so der Therapeut, der dem anwesenden Publikum riet: „Seien Sie mutig und warten Sie nicht, bis Ihre Kinder in der Pubertät sind. Den Kindern geht es besser, wenn es den Eltern gut geht."
Hier geht's zur Vokithek, um den Vortrag nachzuhören
Filmtipp: „Wir Eltern“ (Die etwas andere Homestory), CH 2019, (ausgezeichnet mit dem Locarno-Filmpreis), Zum Trailer
Der nächste Vortrag der Reihe: „Vater sein kann man nicht von Müttern lernen“ von Mathias Voelchert, 11. November, 20 Uhr, Vorarlberger Kinderdorf Kronhalde
Der Vortrag fand in Kooperation mit dem Landeselternbüro statt.
Die Vortragsreihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs wird gemeinsam mit dem ORF Vorarlberg und Russmedia durchgeführt und vorwiegend vom Land Vorarlberg/Fachbereich Kinder und Jugend finanziert. Sämtliche Vorträge können in der Vokithek des Vorarlberger Kinderdorfs nachgehört werden.