FLATZ: Die Konsequenz... Was bleibt ist die Erinnerung
FLATZ (Wolfgang), geboren 1952 in Dornbirn, lebt und arbeitet in München. Nach Mittlerer Reife Ausbildung zum Gold- und Silberschmied, Meisterprüfung mit Auszeichnung, Studium Metalldesign in Graz. 1974 erste Aktionen im öffentlichen Raum, bei der zweiten wurde er verhaftet, bei der dritten in die „Valduna“ eingewiesen. Im selben Jahr Emigration nach Deutschland, Studium der Malerei an der Akademie und Kunstgeschichte an der Universität München, Professur in Linz, 1989 als erster Westkünstler Ausstellung in Leningrad, anschließend Gastprofessuren in Leningrad, Moskau und Tiflis. 2009 Eröffnung des FLATZ Museum in Dornbirn. FLATZ ist Vater eines Sohnes, der in England lebt und zu dem er eine innige Beziehung pflegt.
Als in den 50er Jahren Geborener kriegt man die Kriegslasten der Eltern in seinen Rucksack gepackt, ob man will oder nicht und weiß nicht, was es zu bedeuten hat.
Für die sozialen Verhältnisse, in die man geboren wird, kann man nichts. Oder doch? Wenn etwas dran ist, dass man sich seine Eltern selbst aussucht.
Die 50er Jahre waren die Zeit der Hoffnung, des Aufbaus und der Zuversicht. Als Kind hat man keine Ahnung davon. Meine Kindheit war geprägt von Disziplin, Unterordnung und der Angst vor dem allzu strengen Vater. Es waren nicht die glücklichsten Jahre meines Lebens. Dennoch haben sie meine Zukunft zur Gänze vorbestimmt und mir in Folge ein großes Leben ermöglicht. Die Härte und der bedingungslose Gehorsam meiner Erziehung waren der Ausgangspunkt, mich vollkommen davon zu lösen, auszubrechen und ein selbstbestimmtes Leben zu suchen und zu führen.
Ich wurde Künstler.
„Mein Vater, auch
er ein Kind seiner Zeit“
Mein Vater, ein rechtschaffener, gerechter, aber sehr konsequenter Mann, selbst ein Kind seiner Zeit, ich möchte seine Kindheit, die von Lüge, Verleugnung und Verdrängung gezeichnet war, nicht erlebt haben, hat sein Bestes gegeben, um seine Kinder, drei an der Zahl, innerhalb seiner ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, seines Horizontes und seiner Prägung auf das Leben vorzubereiten. Ich würde sagen, es ist ihm geglückt. Danke Papa.
„Eingestanzt
wie ein Brandzeichen“
Ein Ereignis früher Kindheit hat sich in mein Gedächtnis eingestanzt wie ein Brandzeichen, das einem Rind mit glühendem Eisen ins Fleisch gebrannt wird. Nach der Schule mussten meine beiden Schwestern und ich oft in den nahegelegenen Wald, um Heidelbeeren zu pflücken, die meine Mutter, eine warmherzige Frau, dann zu Marmelade eingekocht hat. Wenn wir Glück hatten und fleißig die zwei Liter Blechmilchkanne gefüllt haben, erhielten wir zur Belohnung einen Schilling, den wir sparen mussten. Bei einer solchen Gelegenheit, nach getaner Arbeit und gefüllter Milchkanne, standen meine Schwestern und ich vor dem einzigen Dorfladen und blickten sehnsuchtsvoll ins Schaufenster. Der verdiente Schilling, den ich nicht in die Sparbüchse warf, sondern in meiner Hand hielt, entglitt mir und fiel in den Kellerrost, der sich vor dem Schaufenster befand.
Sündenfall
mit Mohrenköpfen
Verzweifelt versuchte ich den Rost aufzuhebeln, um wieder an den Schilling zu kommen, was mir nicht gelang. Der Ladeninhaber im weißen Arbeitsmantel, dem meine Bemühungen nicht entgangen waren, kam raus, holte den Schilling aus dem Schacht, baute sich vor mir auf, rollte den Schilling in seinen Fingern, hielt ihn mir vors Gesicht und fragte, was ich dafür wolle. Ich traute mich nicht zu sagen, dass ich ihn sparen müsse und kaufte drei Mohrenköpfe. Je einen gab ich meinen Schwestern mit der Bitte, es Zuhause nicht zu petzen. Den Dritten verputze ich selbst. Das erste, was meine kleine Schwester meiner Mutter daheim sagte, war: „Der Wolfgang hat den Schilling verschleckt.“ Abends als der Vater von der Arbeit nach Hause kam, wir mussten ihm im Wochenturnus die Füße waschen, berichtete ihm meine Mutter von meinem Sündenfall.
„Das Holz
brannte wie Feuer“
Der Vater sagte: „Hol den Kochlöffel … du weißt schon welchen.“ Ich holte das mir bekannte, oft eingesetzte Werkzeug aus der Schublade, gab es ihm in die Hand, zog die Hose blank und bückte mich wie ich es viele Male vorher schon getan hatte. Das Holz brannte wie Feuer auf meinem Gesäß. Mein Vater fragte mich: „Was hast du mit dem Schilling gemacht?“ Die nackte Angst in mir brüllte: „Ich weiß es nicht.“ Es folgte der nächste Schlag, die gleiche Frage und: „Ich weiß es nicht!“ Das Schlag-Frage- Antwort-Spiel wiederholte sich konsequent ohne Unterbrechung solange bis meine Mutter unter Tränen in den Schlagarm meines Vaters fiel und rief: „Siehst du nicht, dass der Bub schon grün und blau ist.“
Heute weiß ich, dass der Vater nur die Wahrheit hören wollte. Heute weiß ich, dass Lügen kurze Beine haben. Heute weiß ich aber auch, dass Prügel nicht die Wahrheit ans Licht des Tages bringen.
Es hat mich so tiefgreifend geprägt, dass es mein Leben und meine Arbeit als Künstler vorbestimmt hat.
Viele Jahre später hat diese Erziehungsmaßnahme in einem Kunstwerk, der Performance „Schläge“, die ich 1977 in Bludenz im Theatersaal aufführte, einen künstlerischen Wiederhall gefunden.
Ende des Stücks
nach dem 274. Schlag
Ich saß im abgedunkelten Saal auf einem Stuhl, Rücken an Rücken zum Publikum und wurde von einem vor mir stehenden Menschen abwechselnd mit der linken und rechten Hand ins Gesicht geschlagen. Das Publikum sah auf einem auf der Bühne befindlichen TV-Monitor mein Gesicht. Nach dem 274. Schlag ungefähr 15 Minuten später wurde das Stück durch das Eingreifen einer Frau aus dem Publikum, die aufstand, zu der Person ging, die mich schlug, sie hielt und sagte: „Ich glaube, wir haben alle verstanden“, beendet. Bezeichnenderweise war es wieder eine Frau, die Einhalt gebot.
Als ich ungefähr elf war, ich weiß den Anlass meiner Verfehlung nicht mehr, und der mir wohl bekannte Satz meines Vaters „Hol den Kochlöffel, du weißt schon welchen“ fiel, ging ich in die Küche, holte unter Tränen das größte Messer, das wir hatten, hielt es meinem Vater hin mit den Worten: „Stich mich doch ab, dann hast du nie mehr ein Problem mit mir.“ Mein Vater sah mir in die Augen, drehte sich um und ging weg. Von da ab hat mich mein Vater nie mehr geschlagen ...
Nachschlag
Unsere beliebte, attraktive Englischlehrerin, jedoch ohne Durchsetzungsvermögen, erteilte der Klasse eine Strafarbeit. Als einer der Rädelsführer in meiner Klasse überredete ich alle 36 Mitschüler, die Hausstrafarbeit nicht zu schreiben. Am darauffolgenden Tag wollte Frau Fischer die aufgetragene Klassenarbeit einsammeln. Wider Erwarten hatte sie tatsächlich keiner geschrieben. Frau Fischer nahm es wortlos hin und ließ sich nichts anmerken.
„Schlechtes
Gewissen“
Am selben Nachmittag kam unser Klassenlehrer, ein sportlicher, selbstbewusster und respektierter Lehrer, zum Unterricht in die Klasse. Er forderte alle 36 Schüler auf, die in Zweierbänken in drei Reihen saßen, aufzustehen. Er ging zum Ersten und fragte: „Warum hast du die Strafarbeit nicht gemacht?“ Noch bevor die Antwort kam, gab er ihm eine schallende Ohrfeige mit dem Aufforderung: „Setzen“ Er ohrfeigte sich von Schüler zu Schüler und arbeitete sich so durch die ganze Klasse. Der Vorletzte in der Reihe war ich. Ein schlechtes Gewissen plagte mich, weil alle wegen mir heiße Ohren ausfassten. Er knallte mir eine. Ich setzte mich. Er forderte mich auf, noch einmal aufzustehen und fragte: „FLATZ, warum hast du alle aufgewiegelt, die Strafarbeit nicht zu machen?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, klatschte seine Hand zum zweiten Mal in mein Gesicht. „Setzen.“
„Gerechtigkeit
und Genugtuung“
Bei einem Klassentreffen 20 Jahre später erzählte ich meinem ehemaligen Klassenlehrer, dass er mir mit der zweiten Ohrfeige die wichtigste Lektion im Leben über Gerechtigkeit und Genugtuung gegeben hat …
Er konnte sich an die Geschichte nicht mehr erinnern.
Wolfgang Flatz als Hütebub auf der Alm in Hittisau 1959.
Auszug aus dem Buch „Kindheit(en) in Vorarlberg“, Bucher 2018 (2. Auflage). Erhältlich im Vorarlberger Kinderdorf (T 05574-4992-0), online und im Buchhandel.