Olivia Mair: „Ich bin ohne einengende Rollenbilder groß geworden“
Olivia Mair, 1980 in Bludenz geboren und aufgewachsen.
Nach dem Gymnasium verbrachte Olivia Mair ein Jahr in Dublin als Au Pair. Danach absolvierte sie das Intermedia-Studium an der FH Vorarlberg und arbeitete im Anschluss als Grafikerin. 2007 startete sie im Mädchenzentrum Amazone und studierte berufsbegleitend Medienpädagogik an der FH St. Gallen. Das Masterstudium feministische Politik und internationale Genderforschung schloss sie drei Jahre später am Rosa-Mayreder- College in Wien ab. Olivia Mair leitete als interimistische Geschäftsführerin den Verein Amazone, seit November 2014 ist sie Geschäftsführerin des Dachverbands der Offenen Jugendarbeit „koje“. Olivia Mair lebt in Dornbirn.
Wenn ich mich an das schüchterne, aber glückliche Mädchen* erinnere, das ich als Kind war, dann wundert es mich einerseits, dass ich heute die geworden bin, die ich bin, und andererseits überhaupt nicht. Aufgewachsen mit zwei Eltern und einer jüngeren Schwester erfuhr ich als Kind – und noch heute – viel Liebe, Vertrauen, Rückhalt und Unterstützung bei allem, was ich tat. Meine Eltern lernten sich schon sehr jung während ihres Lehramtstudiums an der Pädagogischen Akademie in Feldkirch kennen und lieben. Nach der Ausbildung waren beide berufstätig, reisefreudig, kulturell und sozialpolitisch aktiv. Mein Bedürfnis, Zusammenhänge zu verstehen und Bestehendes kritisch zu hinterfragen, wurde mir in die Wiege gelegt. Meine Eltern lebten einige abwechslungsreiche Jahre zusammen, bevor sie sich entschlossen, ihr Leben mit Kindern zu bereichern. Ich ließ jedoch auf mich warten, wie die monatelang geführte Temperaturkurve des Eisprungs von Mama beweist, die sie von Zeit zu Zeit stolz hervorholt und mir dabei zu verstehen gibt, wie sehr sie beide sich auf mich gefreut haben. Zu wissen, dass ich von Anfang an freudig erwartet wurde, gibt mir noch heute großes Selbstvertrauen. Mit der Geburt meiner Schwester zwei Jahre später war unsere Familie komplett. Endlich hatte ich rund um die Uhr eine Spielgefährtin.
Ich bin in einem sehr liberalen Elternhaus ohne einengende Rollenbilder und Erwartungen groß geworden. Von Anfang an war klar, dass Mama nach der Karenz wieder Vollzeit arbeitet. Wäre es möglich gewesen, wäre auch Papa in Karenz gegangen. Häusliche Tätigkeiten wurden selbstverständlich von beiden gemacht und auch bei der Erziehung habe ich beide gleichermaßen präsent in Erinnerung. Meine Tagesmütter waren meist Frauen* aus dem Freund*innenkreis meiner Eltern und für mich nie fremde oder „ungemochte“ Personen. Es gab da auch etliche Kinder in unserem Alter, mit denen mich zum Teil noch heute sehr enge Freund*innenschaften verbinden. Vor allem erinnere ich mich an die vielen tollen, gemeinsamen Urlaube und Grillfeste an der Alfenz.
„Ich spielte mit
Barbies und
Ponys genauso
wie mit Lego
und Autos.“
Ich besuchte zuerst den städtischen Kindergarten, wechselte aber bald in den Ganztagskindergarten, nachdem ich mich bei meiner Mama beschwerte, dass mir die „Kindergartentante*“ verbot, in der „Jungen*ecke“ mit Autos und Bauklötzen zu spielen, weil ich ein Mädchen* sei. Natürlich spielte ich mit Barbies und Ponys genauso wie mit Lego und Autos. Ersteres bekamen wir eher zum Leidwesen meiner Eltern vor allem von unseren Omas geschenkt. Erst Jahre später verstand ich, was Mama mit der Aussage: „Warte nur, bis ich Oma werde!“ meinte. An den Ganztagskindergarten erinnere ich mich gern, wurde und werde aber oft mit der Frage konfrontiert: „Was?! Wollte sich deine Mama nicht selber um euch kümmern?“ Ich glaube, gerade weil meine Mutter gearbeitet und daneben Zeit für sich hatte, konnte sie sich optimal um uns kümmern und glückliche Beziehungen innerhalb der Familie gestalten.
„Morgens
führte Papa
das häusliche
Regiment.“
Ab der Volksschule führte Papa morgens das häusliche Regiment: Als Erster wach, machte er Frühstück und Jause sowie unsere Betten, wusch das Geschirr und brachte uns zur Schule. Die Zuständigkeiten fürs Mittagessen teilten sich meine Eltern auf, und es war unter der Woche fixer Treffpunkt der ganzen Familie, wo alles Wichtige besprochen wurde. Natürlich kam es dabei auch zu Streitereien, bei denen ich nicht selten in mein Zimmer lief und beleidigt die Tür zuknallte. Aber nachtragend war bei uns niemand, und es herrschte eine respektvolle Streitkultur. Als ich sechs Jahre alt war, überraschte uns Mama mit dem Kauf eines Campingbusses. Von da an verbrachten wir jeden Sommer sechs wundervolle Wochen in Jugoslawien und später in Griechenland. Absolutes Highlight dieser Urlaube waren für mich die vielen Katzen auf den Campingplätzen. In unserem Hochhaus war es nicht erlaubt, Haustiere zu halten. Im Urlaub verweilte ich Stunden im extra „Katzahäs“ mit den eigensinnigen Vierbeinern und versuchte, sie mit Leckereien in unseren Bus zu locken – bis meine Eltern die „Flohbiester“ wieder rauswarfen.
Zahnspange,
Pickel und viele
Privilegien
Eine harte Zeit war meine Pubertät: riesengroße Brille, Zahnspange, Pickel, schüchtern, mich im eigenen Körper nicht wohlfühlend, kurz: Ich konnte mich selbst nicht ausstehen. Auch die Streitereien mit meinen Klassenkamerad:innen machten mir zu schaffen und es gab viele Tage, an denen ich es hasste, zur Schule zu gehen. Zu alldem kam noch hinzu, dass meine Eltern über fast alle meiner jugendlichen Experimentierversuche wie heimlich rauchen oder Alkohol probieren, immer informiert waren. In den Hauptschulen Bludenz und Bürs tätig, unterrichteten sie Jugendliche in meinem Alter, die Frau oder Herrn Mair über meine „coolen“ Aktivitäten auf dem Laufenden hielten – aus welchen Gründen auch immer. Also musste ich das Heimliche noch heimlicher anstellen. Alles in allem konnte ich mich aber aufgrund eines wertschätzenden, großen sozialen Umfelds relativ frei von Einschränkungen zu einem selbstbestimmten Menschen entwickeln. Mehr denn je bin ich mir der Privilegien meiner Kindheit und der Art und Weise, wie ich aufgewachsen bin, bewusst – in einer „heilen“ Welt, die mir in manchen Gesprächen sogar wie eine Glasglocke vorgekommen ist.
Mir standen weit mehr Möglichkeiten offen als einem Mädchen* aus ärmeren Verhältnissen, mit Migrationshintergrund, ohne Familie und Bezugspersonen, mit traumatischen Erlebnissen, Behinderung oder anderer Muttersprache.
Nach wie vor werden Kinder heute mit verschiedenen Realitäten des Erwachsenwerdens konfrontiert, unterschiedlich gestärkt und gefördert, behindert oder sanktioniert. Heranwachsende müssen Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe erleben, um ein geschlechterdemokratisches Zusammenleben zu fördern. Privat und beruflich kann ich etwas bewirken, aber ich wünsche und fordere, dass auch gesellschaftlich und politisch die Voraussetzungen endlich soweit verändert werden, dass jedes Kind – unabhängig von Nationalität, Religion, sozialer Herkunft, sexueller Orientierung oder Geschlecht – als Wesen mit eigener Menschenwürde behandelt wird und sich ohne Einschränkungen und gemäß ihrer*seiner Interessen frei entfalten kann.
Sich weiter zu entwickeln, ist jedem Menschen immanent. Persönlich verstehe ich darunter: mit Respekt vor der, die ich einmal war, mit Stolz auf die, die ich heute bin, und mit Vorfreude auf die, die ich einmal sein werde.
Auszug aus dem Buch „Kindheit(en) in Vorarlberg“, Bucher 2018 (2. Auflage). Erhältlich im Vorarlberger Kinderdorf (T 05574-4992-0), online und im Buchhandel.