„Eine Familie ist gelebte Integration“
Kathi erzählt aus ihrem Alltag mit einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingsjungen, dem sie ein Zuhause und damit neue Perspektiven schenkt.
Wie ist es zu der Entscheidung gekommen, einen UMF aufzunehmen, was waren Ihre Beweggründe?
Kathi: Als ich Mahdi 2016 kennenlernte, hat die „Chemie“ zwischen uns einfach hervorragend gepasst. In diesem Sommer haben wir sehr viel miteinander unternommen und uns immer besser verstanden. Zu dieser Zeit hat er noch in einem Haus für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gewohnt und sich ein Zimmer mit zwei anderen Jungen geteilt. Schnell habe ich, unter Rücksprache mit den Betreuern vor Ort, einen Teil der Verantwortung für Mahdi übernommen. Ich habe ihn zu Arztterminen begleitet, zum Fußballtraining gebracht und mich auch um die schulischen Belange gekümmert. Mahdi kontaktierte mich seinerseits auch immer, wenn er Sorgen oder Probleme hatte. Schon nach zwei Monaten hatten wir eine vertrauensvolle Beziehung zueinander, sodass er aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken war. Da ich selbst keine eigenen Kinder habe, standen mir damals genug emotionale, nervliche und zeitliche Ressourcen zur Verfügung. Ich habe mich deshalb recht früh mit dem Gedanken befasst, Mahdi zu mir zu holen, da ich der Ansicht war, es sei besser für seine soziale und emotionale Entwicklung, in einer Familienkonstellation aufzuwachsen. Also jemanden zu haben, der Halt und Sicherheit bietet und jederzeit für ihn da ist. Außerdem hoffte ich natürlich, dass es seine Integration und somit seine Chancen hierbleiben zu dürfen, verbessern würde.
Da ich zu diesem Zeitpunkt aber noch in Deutschland wohnte, gingen noch einige Monate ins Land, bevor die Entscheidung dann wirklich gefallen ist.
Wie war das erste Zusammentreffen?
Kathi: Ich hatte mich ehrenamtlich für Freizeitaktivitäten im Haus Hohenweiler angeboten. Als ich das erste Mal dort einen Spielnachmittag organisiert habe, wurde Mahdi von seinen Betreuern dazu angemeldet. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch und haben an dem Tag viel miteinander gelacht.
Können Sie beschreiben, wie Sie Mahdi damals erlebt haben?
Kathi: Mahdi war damals etwas schüchtern und zurückhaltend, aber sobald man auf ihn zuging, taute er auf und beantwortete bereitwillig alle möglichen Fragen. Er konnte schon ein bisschen mehr Deutsch als die meisten anderen. Sobald er jemanden etwas besser kannte, hat er auch versucht, zu sprechen und seine Sprachkenntnisse zu verbessern.
Mir ist damals bereits beim Spielen aufgefallen, dass er die Regeln gerne etwas großzügig interpretierte. Auch die Anpassung an unsere alltäglichen engen Strukturen und strengen Regeln fiel ihm oft etwas schwer. Diskussionen mit den Betreuern waren an der Tagesordnung. Aber dank seines spitzbübischen Charmes konnte man ihm nie lange böse sein.
Mahdi lernte schnell und war immer offen für Neues. Vor allem sportliche Aktivitäten mit seinen Freunden machten ihm großen Spaß und bescherten ihm die eine oder andere Verletzung. Freunden gegenüber war er stets loyal und hilfsbereit. Auf Grund seines ausgeprägten Gerechtigkeitssinns hat er sich auch immer schon für Schwächere eingesetzt. Mahdi ist ein großzügiger und äußerst sensibler Mensch.
Wie haben Sie ihn unterstützt – was hat er am meisten gebraucht?
Kathi: Ich habe Mahdi zum Beispiel in folgenden Belangen unterstützt: Formulare ausfüllen; Behördenangelegenheiten regeln; Arzttermine ausmachen und wahrnehmen; schulische Angelegenheiten: von Schulsachen besorgen, über lernen bis hin zu Referaten und Pflichtschulabschluss; Sparkonto anlegen; Lehrstelle suchen, finden und wechseln und die damit verbundenen Schwierigkeiten meistern, da er damals noch Asylwerber war; Lehre inklusive Abschluss; Begleitung und Vorbereitung der Befragung vor dem BFA Feldkirch und der Gerichtsverhandlung in Wien und alle damit verbundenen Beratungstermine und Treffen mit dem Anwalt und schließlich der Führerschein und die Autosuche.
Am meisten gebraucht hat er aber die persönliche Zuwendung, eine Schulter zum Anlehnen, ein paar Ohren zum Zuhören und das Gefühl geliebt zu werden und ein Zuhause zu haben.
Wie stark war bei Mahdi die Sehnsucht und die Sorge um die Familie?
Kathi: Sehr stark. Dieses Thema beschäftigte ihn nahezu pausenlos und tut es auch immer noch. Er fühlt sich für alle verantwortlich und hat das Gefühl, ihre einzige Hilfe und Hoffnung zu sein, was ihn selbstverständlich oft überfordert. Besonders schlecht ging es ihm immer nach den seltenen Telefonaten mit seiner Familie, bei denen Ängste, Sorgen und Nöte an ihn herangetragen wurden, auf die er von hier aus keinen Einfluss hatte. Die Sorge um seine Familie beeinflusste und beeinflusst noch immer seine Gemütsverfassung und sein Handeln in hohem Maße. Viele, viele Stunden haben wir über diese Dinge gesprochen und diskutiert. Ich bin dankbar, dass Mahdi mit mir darüber gesprochen hat und spricht und nicht alles mit sich selbst ausmacht.
Was braucht es, dass die Jugendlichen hier „andocken“, sich einleben, sich wohl fühlen können?
Kathi: Meiner Ansicht nach braucht es an erster Stelle eine Familie und eine schnellere Abwicklung der Asylverfahren. Die Familie bietet Halt, Sicherheit und Zuneigung in einem Maße wie es Betreuungseinrichtungen nicht möglich ist. Eine Familie ist gelebte Integration, dort lernen sie Sprache, Sitten und Gebräuche am schnellsten und natürlichsten. Die Familie unterstützt im besten Fall in allen Belangen.
Schnellere Asylverfahren braucht es unbedingt, damit die jungen Menschen so schnell wie möglich Gewissheit haben und ankommen können, ohne vier oder fünf Jahre in der Angst leben zu müssen, dass man sie wieder abschiebt.
An zweiter Stelle sehe ich den Freundeskreis und die Arbeit. Das ist einerseits für die Integration und die finanzielle Unabhängigkeit wichtig, andererseits aber auch für das persönliche Wohlbefinden. Ich setze die Freunde deshalb an zweite Stelle, weil es einem, meiner Meinung nach, erst nach einem positiven Asylbescheid möglich ist, sich auf andere Menschen einzulassen und enge Beziehungen zu knüpfen, wenn man sicher weiß, dass man bleiben darf.
Peergroup/Vereine
Kathi: Mahdi hat lange im Verein Fußball gespielt, vor Corona dann Volleyball. Es waren aber auch immer andere Afghanen im gleichen Verein, weshalb weniger Integration stattgefunden hat, weil die Jungen dann natürlich eher unter sich geblieben sind. Auf meinen Vorschlag hin, hat Mahdi es auch eine Zeitlang mit den Pfadfindern probiert. Leider fiel es ihm sehr schwer, in die Gruppe hineinzufinden, die schon seit vielen Jahren besteht. In der Berufsschule hat er dann etwas mehr österreichische Kontakte geknüpft. Mahdi ist etwas gehemmt und unsicher im Umgang mit österreichischen Jugendlichen. Es ist nicht leicht, als Ausländer in einen Freundeskreis hineinzufinden, der teilweise schon seit dem Kindergarten besteht.
In dieser Hinsicht konnte ich ihm leider wenig helfen. Natürlich habe ich immer wieder Vorschläge gemacht, Tipps gegeben und auf Kurse und Veranstaltungen hingewiesen. Ich war auch stets bereit, ihn zu den Terminen zu bringen, abzuholen, Kuchen zu backen, Ausrüstung zu kaufen, usw.
Was muss eine Pflegefamilie mitbringen, dass sie einen Jugendlichen in seinem Integrationsprozess unterstützen kann?
Kathi: Liebe, Toleranz, Verständnis, Geduld, Zuverlässigkeit, Stabilität, Gelassenheit, gute Nerven und Durchhaltevermögen.
Würden Sie wieder einen UMF bei sich aufnehmen?
Kathi: Auch wenn es vielleicht nicht die Antwort ist, die Sie gerne hören würden: Eher nicht.
Meine Zuneigung zu „meinem afghanischen Kind“ Mahdi ist so groß, dass er für mich wie ein eigenes Kind ist. Mit ihm zusammen vier Jahre lang zu bangen und zu zittern und nicht zu wissen, ob er hierbleiben darf oder nicht, war eine immense psychische Belastung für mich. In dieser Zeit, trotz der vielen Rückschläge, für Mahdi optimistisch zu bleiben und trotzdem immer das Allerbeste zu geben und ihn zu guten Leistungen zu motivieren, hat mich sehr viel Kraft gekostet.
Da ich selbst keine leiblichen Kinder habe, hatte ich von heute auf morgen plötzlich ein 15-jähriges „Kind“. Dieses Alter ist an sich schon eine sehr schwierige und anstrengende Zeit für Eltern, auch ohne die Angst, dass einem das Kind vielleicht wieder weggenommen wird und ohne die schrecklichen Erlebnisse, die dieses Kind geprägt haben und immer noch belasten.
Alles wäre aber sicher leichter gewesen, wenn ich einen Lebenspartner gehabt hätte. Ich glaube nicht, dass ich es schaffen würde, das alles noch einmal allein durchzustehen. Auch wenn der Pflegekinderdienst immer eine große Unterstützung war, ist es doch etwas anderes, wenn man sich zu Hause, vor Ort, die Verantwortung und die Sorgen teilen kann.
Wie haben Sie die Unterstützung durch den Pflegekinderdienst erlebt?
Kathi: Unsere Ansprechpartnerin Isabella war eine große Unterstützung für mich. Wenn ich nicht mehr konnte oder weiterwusste, hatte sie stets ein offenes, unparteiisches Ohr und gute Tipps. Sie stand uns mit Rat und Tat zur Seite. Manchmal hätte ich mir auch am Wochenende einen Ansprechpartner gewünscht, aber das ist wohl sehr schwer umsetzbar. Danke für alles, Isabella!