Von Liebe, Ehrlichkeit und feinen Unterschieden
Wusstest du immer, warum du in einer Pflegefamilie lebst und war es rückblickend wichtig für dich, die Gründe zu kennen?
Carmen: Dass ich in einer Pflegefamilie lebe, habe ich zuerst nicht so mitbekommen, aber auf alle Fälle, dass ich nicht bei meinen leiblichen Eltern bin und irgendetwas anders ist. Meine Betreuerin vom Pflegekinderdienst hat meine Lebensgeschichte damals für mich aufgeschrieben. Daraus haben mir meine Pflegeeltern immer wieder vorgelesen. Ich bin sehr froh, dass ich über die Gründe, warum ich in eine Pflegefamilie kam, nicht erst mit 14 Jahren oder so erfahren habe. Somit konnte ich mich immer etwas mit meiner Geschichte und Vergangenheit auseinandersetzen. Es braucht ja auch Zeit, um das zu verarbeiten.
Wie war es für dich, als Pflegekind aufzuwachsen? Hast du „gemerkt“, dass du ein Pflegekind bist?
Carmen: Ja, das auf alle Fälle. Es gab Menschen, die haben keinen Unterschied gemacht, aber leider auch sehr viele, die mich spüren ließen, dass ich nicht wirklich dazu gehöre bzw. anders bin. Meine Pflegeeltern jedoch ließen uns nie etwas spüren. Für sie waren wir alle ihre eigenen Kinder und das ist bis heute so.
Was war das Beste in deiner Pflegefamilie? Fällt dir ein Highlight ein? Und was war am schwierigsten?
Carmen: Für mich war ein Highlight, als ich den Namen meiner Pflegeeltern angenommen habe. Du kommst zu wildfremden Menschen und entwickelst im Laufe der Zeit solche Gefühle, dass sie dein Zuhause sind, deine Eltern und besten Freunde. Für mich ist das bis heute ein bisschen wie ein Wunder. Ich sage gerne „Mama“ – einfach nur um ein Ja zu hören, um zu wissen, ich habe eine Mama. In so einer Situation bekommt das Wort „Mama“ eine ganz neue Bedeutung.
Hast du dich immer voll angenommen und akzeptiert gefühlt?
Carmen: Bei meinen Pflegeeltern auf alle Fälle. Ich weiß, sie mussten sehr oft für uns einstehen, sich dafür rechtfertigen, dass sie Pflegekinder aufgenommen haben. Meine Pflegeeltern haben nie einen Unterschied gemacht und uns gezeigt, was es heißt, eine Familie zu haben. Heute macht es mich sehr stolz, wenn meine Mama sagt: „Das ist meine älteste Tochter.“ Das Gefühl, nicht akzeptiert zu werden, kenne ich auch, aber es zu beschreiben ist sehr schwierig. Man merkt einfach, dass man nicht erwünscht ist und das hat mich oft verletzt. Ich habe viel geweint und mich gefragt, was ich falsch mache oder was nicht stimmt mit mir, wobei die Pflegekinder und Pflegeeltern meiner Meinung nach am wenigsten dafür konnten, dass es diese Situationen gab.
Wie lebst du heute und wie schaut dein nächstes Ziel aus?
Carmen: Ich lebe immer noch zu Hause bei meiner Pflegemama. Ich habe die Handelsschule abgeschlossen und arbeite jetzt als Bürokauffrau. Einer der nächsten Schritte wird sicher der Auszug sein, allerdings lasse ich mir hier noch etwas Zeit, da ich noch total an meinem Zuhause hänge.
Kannst du dir vorstellen, selbst ein Pflegekind aufzunehmen? Was würdest du dann besser oder anders machen als deine Pflegeeltern?
Carmen: Auf alle Fälle würde ich selber ein Pflegekind aufnehmen. Ich sehe gerade bei meinem kleinen „Pflegebruder“, wie das ist. Ich hoffe, dass ich dann die gleiche Stärke und Liebe wie meine Eltern habe, aber ich zweifle nicht daran, weil sie mir ein großes Vorbild waren und weiterhin sind. Wie ist die Beziehung zu deinen Pflegeeltern heute? Carmen: Sehr gut. Mein Pflegevater ist leider vor zwei Jahren gestorben, aber für mich sind sie meine Eltern. Neben meinem Freund und meinen Geschwistern sind sie die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Für mich ist das meine Familie.
Was hast du von deinen Pflegeeltern gelernt, was haben sie dir mitgegeben fürs Leben?
Carmen: Ehrlichkeit war und ist immer noch das Wichtigste für meine Eltern ebenso wie die Liebe, die diese zwei miteinander verbunden hat.
Was müssen leibliche Eltern wissen, wenn sie ihr Kind in einer Pflegefamilie geben?
Carmen: Es kann passieren, dass das Kind zwei Mamas und zwei Papas hat. Wichtig ist dann nur, dass die leiblichen Eltern das akzeptieren – so schwer es auch sein mag. Dass sie auch nicht schlecht über den anderen Elternteil reden oder über die Pflegeeltern, um das Pflegekind nicht noch mehr zu verunsichern. Ein anderer Tipp von mir wäre, ein Pflegekind nicht unter Druck zu setzen. Gerade in meiner Situation war ich so schon bei vielen Dingen unsicher und musste dann noch mit diesem Druck umgehen. Ein wichtiger Punkt ist, dass sich die Pflegekinder ändern werden und es sehr gut sein kann, dass sie eines Tages keinen Kontakt zu den leiblichen Eltern mehr möchten. Das Allerwichtigste ist glaube ich, dass die leiblichen Eltern selber zuerst hinterfragen, was genau zu dieser Situation führte.
Welche Tipps kannst du einem Paar geben, das ein Pflegekind aufnehmen möchte?
Carmen: Eine Sache, die ich auf jeden Fall empfehlen kann, ist zu versuchen, sich in das Kind so gut es geht hineinzuversetzen. An meinen Pflegeeltern habe ich sehr geschätzt, dass sie nie schlecht über meine leiblichen Eltern gesprochen, sie aber auch nicht verteidigt haben. So konnte ich mir meine eigene Meinung bilden. Ansonsten: Den Kindern einfach gut zuhören, sich Zeit nehmen, vor allem Vertrauen aufbauen, was wahrscheinlich großer Geduld bedarf. Sehr wichtig wäre vielleicht gerade am Anfang, dass das Kind nicht gleich bestraft wird, wenn es einen „Fehler“ oder etwas Eigenartiges macht. Man sollte in Ruhe mit ihm sprechen und versuchen herauszufinden, warum es das gemacht hat. Denn man weiß nie, was das Kind in der Vergangenheit erlebt hat und ob sein Verhalten damit zusammenhängt.
Hattest du selbst Kontakt zu deinen leiblichen Eltern und wie ist die Beziehung heute?
Carmen: Ich hatte von Anfang an Kontakt zu meinen Eltern und natürlich war es schön, aber auch bei jedem Abschied wieder sehr traurig. Dennoch ist der Kontakt in meinen Augen von großer Bedeutung. Ich selbst habe meine leiblichen Eltern seit ca. acht Jahren nicht mehr gesehen, da es mich irgendwann persönlich erdrückt hat und ich sehr unglücklich war.
Hast du dir jemals gewünscht, bei deinen leiblichen Eltern aufwachsen zu können?
Carmen: Ganz zu Beginn, ja, aber das hat sich sehr schnell gelegt, als ich erlebte, was ich in dieser „neuen Familie“ an Liebe und Zuneigung bekomme und wie alle immer mehr zu meiner Familie wurden.