Familien Burnout - Warum gut genug reicht
Vormals als Managererkrankung tituliert und der Arbeitswelt zugeschrieben ist die Stresserkrankung „Burnout“ im privaten Bereich der Familie angekommen. „Die Zahl betroffener Mütter und Väter steigt stetig“, so der Familientherapeut und Neurologe Hans Hartmann in der Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs. Zwischen 15 und 30 Prozent aller Familien seien bereits in der Stressspirale gefangen, erklärte der Leiter dreier Mutter-Kind-Kurkliniken.
Die Utopie von „immer besser“
Wird „immer besser, schneller, mehr“ für Eltern zum sich exponentiell beschleunigenden Dogma, hat dies für Kinder gravierende Folgen. „Ich kann mich nicht mehr an meinen Kindern freuen“ oder „Ich kann meine Kinder nicht mehr lieben“ lauten typische Aussagen völlig erschöpfter Eltern. Burnout-Symptome seien vielschichtig und sehr individuell, immer jedoch mit einem Gefühl der Ausweglosigkeit und absoluten Überforderung verbunden. Die Alarmglocken sollten laut Hans Hartmann spätestens dann schrillen, wenn sich zunehmende Gereiztheit breitmacht, wenn die Kraft für gemeinsame Aktivitäten fehlt und sich die Kommunikation auf Schweigen oder Brüllen reduziert.
Kaum Gleichberechtigung in Familien
„Es schnürt mir die Luft ab“, „Ich fühl mich wie ein Roboter, völlig leer“, zitierte Hartmann im ORF Landesstudio Dornbirn aus Gesprächen mit betroffenen Eltern, vorwiegend Frauen. Denn das Klischee der Super-Mutter – der sogenannte „Mama-Mythos“ – verbunden mit einem hohen Optimierungs- und Perfektionsdruck halte sich nach wie vor hartnäckig. „Gleichberechtigung ist nicht in der Familie angekommen“, betonte der Facharzt für Psychiatrie. „Immer noch sind es die Frauen, die die Familie weitestgehend managen. Ohne mich läuft hier nichts, ich darf nichts falsch machen, ich muss meine Kinder glücklich machen …. die Ansprüche, die Mütter an sich selbst haben, sind extrem hoch“, meinte Hartmann. „In Kumulation mit überzogenen gesellschaftlichen Erwartungen bilden sie den perfekten Nährboden für ein Burnout.“
Stress als Unkultur
Dazu kommen Rollenkonfusionen der Väter, die mit ihrem Engagement für die Familie irgendwo zwischen „Held“ und „Aussteiger“ pendeln. Nahezu grenzenlose Wünsche der Kinder ebenso wie steigende psychische Probleme bei den unter 18-Jährigen tun ihr Übriges, um Eltern in den Dauerstress-Modus zu versetzen. „Stress als Kulturphänomen ist zur Unkultur geworden, um der ,Immer besser‘-Utopie und einem völlig überzogenen Erwartungsdruck standzuhalten“, stellte der Experte fest. Hans Hartmann plädiert für ein „good enough“. Mehr „ausreichend gute Mütter“ und „ausreichend funktionierende Familien“ seien gefragt statt sich im Hamsterrad unerreichbarer Ansprüche aufreibender, nach vermeintlicher Perfektion strebender Eltern. Hartmann nahm auch die politisch Verantwortlichen in die Pflicht. „Die Politik delegiert immer mehr an die Familien und die Hilfen hinken hinterher.“
Reden auf Augenhöhe statt Dauerglück
Einen durchaus kritischen Blick warf Hartmann auch auf die viel gerühmte „Work-Life-Balance“. „Sie ist vom Mainstream eingeholt und mit Erwartungen überfrachtet: an eine erfüllte Beziehung, Freizeit, Familie, Arbeit - ein rundum erfülltes Leben.“ „Stopp mit Dauerglück“, fordert Hartmann. Mehr Beziehung statt Erziehung, mehr Bindung und Vorbildfunktion sei von Eltern und Bezugspersonen gefragt. „Kinder brauchen Perspektivengeber und Vorbilder, die mit ihnen auf Augenhöhe reden statt whatsappen.“
Wege aus der Stressspirale
Die Empfehlungen und Exit-Strategien des Experten: Bewegung, gesunde Ernährung, Entspannung, eine gemeinsame warme Mahlzeit am Tag, Pläne und Hilfspläne, eine gemeinsame Aktivität pro Woche, mit den Kindern spielen, basteln, ihnen Geschichten erzählen. Statt ständiger Erreichbarkeit rät Hartmann zum Langsamkeit-Üben und Zusammen-Neues-Entdecken. „Auf jeden Fall müssen wir in unserem Denken eine Begrenzung einführen und der No-Limits-Entwicklung gegensteuern.“
So authentisch wie möglich
„In der Kernfamilie spiegelt sich die Gesellschaft und kumuliert sich dort. Familien spüren den Druck und können ihn nicht regulieren. Dafür geben sie sich selbst die Schuld.“ Diese Entwicklung hat laut dem Psychotherapeuten drastische Folgen: „Wir sind in Auflösung, es zerreißt die Familien und Eltern. Wir werden ein anderes Bewusstsein brauchen, um zu überleben“, konstatiert der Neurologe. Eltern riet er zu emotionaler Transparenz. Sein Appell: „Seien Sie so authentisch wie es geht.“
Die Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs wird in Zusammenarbeit mit den Medienpartnern ORF Vorarlberg und Russmedia durchgeführt und vom Land Vorarlberg – Fachbereich Jugend und Familie – unterstützt. Über 80 Vorträge können in der Mediathek des Vorarlberger Kinderdorfs unter www.vorarlberger-kinderdorf.at nachgelesen und nachgehört werden.
Autorin: Christine Flatz-Posch