Elternsein heute: Warum Familie nur gemeinsam gelingt
Das gesellschaftliche Bild von Müttern wie Vätern sei nach wie vor sehr geprägt von traditionellen Geschlechtervorstellungen, erklärte die Schweizer Psychologin Margrit Stamm in der renommierten Vortragsreihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs. „Mütter gelten als überlastet, Väter als defizitär“, so die Familienforscherin. „Bei Müttern stehen der gesellschaftlichen Diskussion Vereinbarkeitsprobleme im Vordergrund. Der Standardvorwurf an die Männer lautet, dass sie sich zu wenig in Familie und Haushalt einbringen.“
Gute Väter sind emotional präsent
In ihrem Referat knöpfte sich Stamm weit verbreitete Vorurteile vor. So mache mehr häusliche Anwesenheit aus Männern nicht zwangsläufig bessere Väter. „Zeitliche Präsenz sagt wenig über die Qualität des Vaterseins aus. Vielmehr geht es darum, dass Väter daheim auch ansprechbar und emotional verfügbar sind.“ Die Forschung zeige, dass Väter, die zwar wenig zu Hause, aber kind- und partnerschaftlich fokussiert sind, die Entwicklung ihrer Kinder positiv beeinflussen.
Mama-Mythos – widerlegt, aber noch aktuell
Empirisch widerlegt sei auch die Annahme, dass Mütter von Natur aus fürsorglicher seien. An diesem nach wie vor weit verbreiteten „Mama-Mythos“ würden aber vor allem Frauen selbst hartnäckig festhalten. „Ich finde es erstaunlich, dass im Jahr 2023 die Mütter so eine enorme Bedeutung haben und sie trotz aller Gleichstellungsbemühungen dermaßen unter Druck stehen“, meinte die Erziehungswissenschaftlerin. Auch aktuell würden Mütter eher schuldig gesprochen, wenn etwas mit dem Nachwuchs nicht klappt. „Väter kommen da weit besser weg. Die Frauen werden als hauptverantwortlich gesehen, Kinder in ihren sensiblen Phasen zu fördern und zu betreuen.“ Auch die mütterzentrierte Bindungsforschung hätte diesen Mythos einzementiert.
Alle anderen wissen es besser
Zudem sei viel Druck, der auf den Müttern laste, der „Dauerüberwachung im öffentlichen Raum und durch Verwandte“ geschuldet. „Alle reden mit, bewerten und wissen es besser – ob im Bus, im Geschäft oder in der eigenen Familie.“ Darüber hinaus fehle es an Solidarität der Frauen untereinander. „Die Konkurrenz zwischen Müttern ist groß“, sagte die Psychologin, die sogar vom „Mommy war“ spricht. „Frauen sind wenn überhaupt nur mit solchen Frauen solidarisch, die idente Lebensmodelle verkörpern.“ Befeuert würden die stereotypen Rollenbilder von Influencer:innen auf Social Media, die perfektes Elternsein suggerieren.
Darf Mama anders sein als Papa?
„Neue Väter brauchen neue Mütter, die sich trauen, festgefahrenen Klischees die Stirn zu bieten“, ist die Forscherin überzeugt. Es sei dringend an der Zeit für eine Aufweichung stereotyper geschlechtsspezifischer Zuschreibungen. Beide Elternteile sollten anders sein und sich in ihrem Erziehungsverhalten unterscheiden dürfen. „Es ist Schnee von gestern, dass nur die Mütter für Bindungssicherheit zuständig sind. Beide Elternteile können sowohl für feinfühlige Fürsorge als auch für Erkundung und Autonomie zuständig sein. Wichtig ist allerdings, dass Kinder sowohl den Aspekt der Fürsorge als jenen der Freiheit erleben dürfen.“ Oft hätten Mütter zuhause die Definitionsmacht. „Männer werden in ihrer Motivation, sich einzubringen, eingebremst, wenn sie es so machen müssen, wie die Frauen es wollen“, konstatierte Stamm. „So werden Väter zu Praktikanten degradiert.“ Denn grundsätzlich seien Männer genauso motiviert, sich in der Familie zu engagieren, wie Frauen.
Neue Weichenstellungen in Politik und Gesellschaft
Damit Familie gelingen kann, sind laut Margrit Stamm neue Weichenstellungen gefragt, die weg von weiblichen Maximierungsansprüchen führen. „Es braucht ein gesellschaftliches und politisches Umdenken und eine Normalisierung überzogener Erwartungshaltungen, was Eltern leisten können und müssen“, lautet der nachdrückliche Appell der Schweizer Expertin. Darüber hinaus seien Väter gefordert, ihre eigene Rolle zu finden, die anders als jene der Mütter sein könne. „Das ist ein Gewinn für die Kinder.“ Generell rät Margrit Stamm dazu, die eigene Persönlichkeit wieder zu entdecken und dem Mainstream abzusagen. „Es braucht Empowerment und den Mut, es so zu machen, wie man es als Paar und Familie gut findet.“
Der Vortrag kann in der Mediathek des Vorarlberger Kinderdorfs auf www.vorarlberger-kinderdorf.at nachgehört werden.
Die Reihe „Wertvolle Kinder“ des Vorarlberger Kinderdorfs wird in Zusammenarbeit mit den Medienpartnern ORF Vorarlberg und Russmedia durchgeführt und vom Land Vorarlberg – Fachbereich Jugend und Familie – unterstützt. Über 80 Vorträge können in der Mediathek des Vorarlberger Kinderdorfs unter www.vorarlberger-kinderdorf.at nachgelesen und nachgehört werden.
Autorin: Christine Flatz-Posch